Credo – lang

Alles ändert sich, nicht zuletzt die eigenen Einstellungen, Prämissen und Ziele. Vielleicht – hoffentlich – nicht in jeder Hinsicht, aber doch so weit, dass frühere Anläufe zu ihrer Verschriftlichung in Teilen fremd erscheinen. Auf Musik kann das natürlich auch zutreffen, aber im Medium der Sprache werden Differenzen noch viel deutlicher greifbar.

Nun, Versuch einer Ortsbestimmung. Die folgenden Überlegungen und Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Beobachtung verschiedener musikalischer Szenen, meiner kompositorischen Praxis und der Arbeit in den Bereichen Kuratierung, Lehre und Softwareentwicklung. Insbesondere interessiert mich die Beziehung von zeitgenössischer instrumental-akustischer zu avancierter elektro-akustischer Musik. Hier gibt es einerseits interessante ästhetische Überschneidungen, was den klanglichen Gegenstand betrifft (z.B. im Umgang mit Geräuschen), andererseits herrscht eine oftmals unüberwindliche Fremdheit der Auditorien bzw. gegenseitiges Desinteresse. Die heutige Breite der – im umfassenden Sinn – experimentellen Musik beinhaltet außerdem vieles, das in den weiteren Ausführungen nicht explizit berücksichtigt wurde (Improvisation, Noise, Ambient etc.), obwohl die beschriebenen Disruptionen dort gleichermaßen auszumachen sind. Eine besondere Situation liegt allerdings in Grenzbereichen zur bildenden Kunst vor: Installationen und interaktive Arbeiten haben sich als Formate im wesentlichen als Resultat der Revolution der klanglichen Produktionsbedingungen in den letzten Jahrzehnten entwickelt, sie müssen darauf also nicht gesondert reagieren.

Bezogen auf die Traditionslinie der musikalischen Komposition jedenfalls – und nicht nur auf diese – leben wir in einer Zeit des Umbruchs. Keine Neuigkeit, aber das Faktum kann man sich gar nicht oft genug bewusst machen. In vielen Szenen jedoch lebt man mit recht stabilen Handlungsstrukturen, vom Zentrum des Bebens entfernt, wodurch die durch dieses verursachten Änderungen in voller Tragweite kaum erkannt werden können, auch die Notwendigkeit mit dem eigenen Tun ein wirtschaftliches Auskommen zu finden verstellt den Blick aufs Ganze. Der Betrieb der Kunst, die Subszenen der zeitgenössischen Musik, sie laufen wie ehedem und suggerieren Kontinuität in der gewohnheitsmäßigen Präsentation des Neuen.

Tatsächlich aber ist mit den Möglichkeiten der Digitalisierung bzw. der Erfindung des Computers – und insbesondere seinen Echtzeit-Anwendungen im musikalischen Bereich – ein Bruch aufgetreten, wie er in solcher Radikalität vielleicht nur alle paar hundert Jahre passiert.

Im Hinblick darauf müssen alle Bereiche des Musikschaffens – Komposition, Aufführung, Ausbildung – neu durchdacht werden ohne das historisch Relevante über Bord zu werfen, aber auch – und hier liegt vielleicht die größere Schwierigkeit – ohne sich von den Gewohnheiten der Vergangenheit in den derzeitigen Möglichkeiten beschränken zu lassen. Selbstverständlich geht das nicht von heute auf morgen, also leben wir in einer Übergangszeit, in der vieles Asynchrone (und auch Anachronistische) nebeneinander existiert. Das ist auch nicht per se schlecht, erwächst der ästhetische Wert des Neuen doch hauptsächlich aus der Spannung zur Vergangenheit und kaum nur aus sich selbst. Für musikalisch Schaffende stellt sich allerdings – weit mehr als für musikalisch Reproduzierende, deren Praxis zu einem großen Teil von konstanteren Rahmenbedingungen abhängt – zuallererst die Frage, inwieweit man sich auf die Möglichkeiten des Computers einlässt. Mit anderen Worten: Strukturerzeugung, Klangerzeugung und Interaktion können maschinell, mit menschlicher Arbeitskraft oder in hybrider Form gestaltet werden, welche Gewichtungen werden gesetzt? Ich möchte die Frage in doppelter Weise beantworten, indirekt als allgemeine Prognose der soziologischen Auswirkungen der neuen Möglichkeiten und mit einer individuellen Schlussfolgerung.

Meine (nicht besonders gewagte) Vorhersage: insgesamt wird das Bedürfnis nach Performance im weitesten Sinne nicht völlig verschwinden, insbesondere kammermusikalische Ensembles werden weiterhin existieren und es wird für sie komponiert werden – wie sie auch selbst weiterhin improvisierend agieren werden –, der Anteil des Computers am Prozess der Komposition und an der Aufführung wird sich erhöhen. Die akusmatische Musik, in der sich die performative menschliche Beteiligung auf die Klangregie beschränkt, sowie die rein elektronische Live-Performance bestehen wie bisher, visuelle Aspekte werden in allen Bereichen eine zunehmende Rolle spielen. Das Orchester jedoch hat seine Rolle als maßgebliches Forum für zeitgenössische Musik bereits seit Langem verloren, dieser Prozess ist meiner Überzeugung nach unumkehrbar: technologische Entwicklungen entfalten eine gesellschaftliche Transformationskraft, der sich niemand entziehen kann. Der Trend zur Substitution von Menschen durch Maschinen, insbesondere in Bereichen, die kollektive Arbeitskraft erfordern, ist eindeutig und macht nicht vor dem Kunstbetrieb halt. Das Orchester als Medium des 19. Jahrhunderts hat unter diesen Voraussetzungen einen schweren Stand, das soll nicht heißen, dass seine ästhetischen Möglichkeiten prinzipiell ausgereizt wären, aber seine Zeit als wesentliches Experimentierfeld außerhalb der rein musealen Funktion ist vorbei. Abbau und Zusammenlegungen sind, obwohl ökonomische Gründe auch oft bloß als bequeme Argumente angeführt werden, doch ein markantes Indiz für die grundlegende Problematik.

Die großen Ensembles, die die Entwicklung der Neuen Musik insbesondere in den letzten Jahrzehnten getragen und in verdienstvoller Weise auch maßvoll popularisiert haben, stehen möglicherweise vor ähnlichen Schwierigkeiten. Ihre museale Funktion – diese wird zumindest das Fortbestehen einiger Orchester sichern – beschränkt sich auf ein schmäleres und eher spezialisiertes Repertoire, bezüglich der neuen Produktion stehen sie in Konkurrenz zu kleineren Ensembles, die die Einbeziehung von elektroakustischen Mitteln in der Aufführungssituation einfacher realisieren können. Auf klanglicher Ebene sind die Möglichkeiten erweiterter rein instrumentaler Spieltechniken, auch in Kombination, zunehmend ausgereizt, bzw. der Aufwand ihrer Erforschung erscheint in Relation zu ihrem Erneuerungspotential hoch. Vielleicht nicht zuletzt deshalb lassen sich hier Trends zum Musiktheater, zur Einbindung von Multimedia und zu außermusikalischen Kontexten, mithin eine Überschreitung des rein Klanglichen, erkennen.

Was bedeutet ein spekulativer Blick auf allgemeine Trends für das eigene Schaffen? Zunächst einmal nicht viel, denn was man aufgrund intrinsischer Motivation machen muss, das macht man auch – und oft bewusst – gegen die großen Trends der Organisationsstrukturen; Anlässe und Motive sind zudem Fluktuationen ausgesetzt. Ein zeitweiliges Innehalten und der Vergleich mit den allgemeinen Bedingungen führen aber immer wieder zu Kursänderungen, neue interessantere Möglichkeitsfelder werden gegenüber den bekannten bevorzugt.

Eine solche Kursänderung ergab sich für mich in der Zeit nach dem Abschluss meines Kompositionsstudiums: meine ersten größeren Anwendungen des Computers im Arbeitsprozess waren strukturerzeugende Verfahren im instrumentalen Bereich für kleinere bis mittelgroße Besetzungen. Parallel dazu arbeitete ich auch an rein elektronischen Werken, aber es dauerte bis 2007, als ich mit der Reihe Lokale Orbits begann und sich die Dinge für mich verbinden ließen. In ihr werden Solo-, Duo- und Triobesetzungen mit mehrkanaligem Tape kombiniert, die Elektronik wurde aus Aufnahmen mit den an den Uraufführungen beteiligten Musiker_innen entwickelt. Eine besondere Motivation der Orbits bestand für mich in der Möglichkeit, erweiterte Spieltechniken in den elektronischen Raum fortzusetzen, die Verarbeitung mit Granularsynthese war dazu das Mittel der Wahl. Den Übergang von der Strukturgeneration zur Klangprozessierung als wesentlichem Feld der musikalischen Gestaltung empfand ich als befreiend. Die formale Gestaltung entwickelte sich nun vielmehr aus den klanglichen Möglichkeiten heraus, anstatt sie umgekehrt zu bestimmen. In beiden Fällen habe ich mich jedoch für ähnliche Algorithmen entschieden.

Parallel zur Arbeit an den Orbits begann ich mit der Entwicklung der Software-Bibliothek miSCellaneous in SuperCollider. Diese Programmiersprache eignet sich zur Arbeit an Strukturgeneratoren und eröffnet nahezu unüberschaubare Möglichkeiten zur Klangsynthese und -prozessierung in Echtzeit. Aus Gründen der Nachhaltigkeit hatte ich zwar immer gewisse Vorbehalte gegenüber Live-Elektronik in der eigenen Arbeit, im kompositorischen Destillationsprozess aber stellt Echtzeit (realtime) einen Quantensprung dar. Die Abfolge von Experiment und Entscheidung beschleunigt sich auf ungeahnte Weise, das war für mich schließlich der ausschlaggebende Grund, die Idee einer auf klanglichen Vorstellungen oder abstrakten Prinzipien beruhenden kompositorischen Planung völlig aufzugeben, das klangliche Experiment wurde zum Ausgangspunkt. Keineswegs ist das eine Absage an formale Gestaltung, im Gegenteil, die Form entwickelt sich aber immer in Folge, aus den Klangmaterialien heraus, gleichsam bottom up.

Die Erfahrungen mit verschiedenen Computermusikumgebungen haben mich weiters zur Überzeugung geführt, dass das größte Potential in der direkten Verwendung von Programmiersprachen liegt. Hier liegt die Freiheit in grundlegende Prozesse einzugreifen und Interfaces zu entwickeln, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen. Der Diskurs einer lebendigen Open-Source-Community stimuliert außerdem die Arbeit an neuen musikalischen Optionen.

In den letzten Jahren hat sich mein künstlerischer Schwerpunkt, vielleicht nicht zuletzt aufgrund der Vertiefung in Softwareententwicklung und klangliches Experimentieren, neuerlich etwas verschoben. Ich sehe derzeit in diesem Bereich das größte Potential, völlig neue Klangwelten zu entdecken und kompositorisch zu nutzen. Hier liegen Edelsteine nur knapp unter der Erde, sie werden selten bemerkt, warum? In der Vermittlung von Synthese und Prozessierung dominieren verschiedene Denkschulen und Interessen: technische Darstellungen und Analysen hier, kommerzielle Anwendungen da. Der ästhetische, künstlerisch relevante Aspekt der verschiedenen Verfahren wird selten erläutert. Das liegt an den genannten Fokussierungen einerseits, an der Unüberschaubarkeit der Materie andererseits. Darstellungen in Lehrbüchern folgen oft Standardschemata, abgeleitete Synthesebeispiele klingen dann entsprechend stereotyp. Positiv formulierte Anleitungen zum Bau interessanter Verfahren würden sich außerdem selbst ad absurdum führen – wie dies z.B. an der inflationären Verwendung – und daher an der Abnutzung – von Standardmethoden der Granularsynthese zu beobachten ist. Vorgefertigte Effektprozessierungen kommerzieller Software wiederum schränken die Möglichkeiten durch "bequeme" Interfaces ein, formbildende algorithmische Transformationen können dann kaum oder nur in umständlicher Weise angewandt werden. Als Basis einer anspruchsvollen individuellen Klang(er-)forschung würde ich die folgenden Voraussetzungen ansehen:

Als Folge der Vertiefung der experimentellen Klangerforschung bin ich mit der Werkserie Matters vom Konzept einer musique mixte – wie mit den Lokalen Orbits realisiert – abgerückt und habe mich zuletzt auf die akusmatische Hörsituation mit Mehrkanalprojektion beschränkt. Nach wie vor beschäftigt mich die Verarbeitung aufgenommener Klänge jedoch mehr als die reine Synthese. Die Unregelmäßigkeit realweltlicher Klänge setzt sich in ihren Verarbeitungen willkommenermaßen fort, ein irrationales und im Bereich der reinen Synthese kaum simulierbares Moment. Zudem stellen Aufnahmen eine Vorauswahl dar und kontrastieren den schwindelerregenden Möglichkeitsraum aller berechenbaren Klänge. In der Prozessierung experimentiere ich mit Varianten der Granularsynthese (z.B. in Verbindung mit Feedback und multipler Modulation von deren Parametern), Buffermodulation, Wavefolding und anderen z.T. als als non-standard rubrizierten Verfahren, zuletzt mit dynamischen Systemen.

Unerwartete klangliche Entdeckungen im Zuge einer experimentellen Programmierpraxis erstaunen mich immer wieder. Nicht alles ist sofort verwertbar, oft lagern Fragmente lange ungenutzt, weil die Zeit zur Ausarbeitung fehlt oder zu viele Klänge mit Entwicklungspotential gleichzeitig auftauchen. Nachdem sich der Klang und seine Veränderlichkeit zum Dreh- und Angelpunkt meiner kompositorischen Praxis entwickelt hat, tendiere ich dazu, andere Aspekte dem unterzuordnen. Daraus resultiert neben der Präferenz für die akusmatische Hörsituation der Verzicht auf visuelle Gestaltung und außermusikalische Bezüge.

Unter veränderten Umständen stellen sich dann aber erneut die alten Fragen:
Was will ich, was nicht? Was geht (noch), was nicht (mehr)? ...

Die Antwort liegt jeweils im Klang, sie verschließt sich der Argumentation.
Die Begründung erläutert den Rahmen, sie bleibt das Vorletzte.

Daniel Mayer, 2019